30 Jahre Wiedervereinigung

Morgen wird es besser werden

Von März bis Mai 1990 reiste ich in die letzten Tage der DDR: Ich wollte wissen, wer mit mir „ein Volk“ sein wollte, welches Land nun auch meines werden würde. Es wurde eine faszinierende, bewegende Reise - selten standen mir Türen so offen wie in diesen besonderen drei Monaten: Privatwohnungen und Kombinate, Geburtstagsfeiern, kleine und große Werkstätten, Kleingarten­anlagen und Polizeidienststellen …

In vielen Gesprächen entdeckte ich über das Unbekannte hinaus vor allem auch ein Land im Umbruch. Stimmungen, die mich an die Nachkriegs-BRD erinnerten: Hoffnung auf ein besseres Leben. Bangen vor der Zukunft. Staunen über schier grenzenlose  Möglich­keiten. Hochachtung, manchmal geradezu Verehrung für den Westen.

Morgen wird es besser werden“ verbindet Bilder aus der untergehenden DDR mit Zeitungausschnitten aus den ersten Tagen des „Wirtschaftswunders“. Die kombinierte Rückschau macht eine Seelen­verwandtschaft sichtbar, die man im Westen – vielleicht etwas zu selbstgefällig – vergessen zu haben scheint.

Die Bilder und Geschichten wanderten in einer Ausstellung für das Goethe-Institut für einige Jahre um den Globus.

März 1990

Ich reise in die DDR. In das andere Deutschland zu den anderen Deutschen. Vier Monate ist es her, dass ich, buchstäblich zu Tränen gerührt, vor dem Fernseher den Fall der Mauer erlebt habe. Berührt von der Freude der Menschen und von meiner Erinnerung an die Brutalität dieser Grenze.

Wer ist das, der sich da mit mir vereinigen möchte?

Ich erlebe ein Land im Umbruch. Viele Menschen, die sich kritiklos der Vereinigung entgegenfiebern und sich auf kapitalistisches Geld freuen – zu weiterhin sozialistischen Konditionen.

Einiges, was ich in der DDR beobachte, gab es doch schon mal: Herrschte nicht bei uns noch bis in die 70er Jahre eine ähnlich schwärmerische Bewunderung für die USA? Damals drängten sich dem gebrochenen Selbstwertgefühl der westdeutschen Kriegsgeneration die Amerikaner als Vorbild auf. Jubelnd wurden Care-Pakete entgegengenommen, amerikanische Zigaretten, Nylons und der American Way of Life. Niemand hatte Interesse, diesen Traum zu hinterfragen. Die meisten waren aufs Wirtschaftswunder fokussiert.

Ähneln sich die Situationen?

Mai 1990

Ich fahre wieder in die DDR, in der Hoffnung, dort Bilder zu finden, die diese Entsprechungen zeigen.

Eine Hölle vergleichbar mit dem Deutschland von 1945 ist die DDR 1990 sicher nicht – aber aus westlicher Sicht trotzdem an vielen Stellen in erschreckendem Zustand.

"Jede Zeit, jede Kultur, jede Sitte und Tradition hat ihren Stil, hat ihre ihr zukommenden Zartheiten und Härten, Schönheiten und Grausamkeiten, hält gewisse Leiden für selbst­verständlich, nimmt gewisse Übel geduldig hin. Zum wirklichen Leiden, zur Hölle wird das menschliche Leben nur da, wo zwei Zeiten, zwei Kulturen und Religionen einander überschneiden."
(Hermann Hesse)

Eines der Hauptprobleme im Alltag der DDR war die Beschaffung von Waren. Genau das ist im kapitalistischen Westen in der Tat üppig gelöst. Eines der Hauptprobleme in der BRD - die Beschaffung von Geld - kennen die Ostdeutschen noch nicht. Sie haben eine Welt vor Augen, in der scheinbar paradiesische Zustände herrschen: selbstbewusste Menschen, Reichtum, gepflegte Städte! Das, so zeigen die Zeitungsausschnitte aus dem westdeutschen Nachkriegsjahrzehnt, war auch das, was der Westen damals in „Amerika“ gesehen hat.

April 2020

Noch während meiner letzten DDR-Reise hatte Helmut Kohl „blühende Landschaften“ versprochen und damit Erwartungen geweckt, die sich so bis heute nicht vollständig erfüllt haben.

Ob die schnelle Wiedervereinigung im Oktober 1990 ein Fehler war, kann ich nicht beantworten – die von mir erhoffte und erwartete Suche nach einer eigenen ostdeutschen Identität wurde jedenfalls in der Breite von den Menschen nicht getragen.

All das liegt inzwischen so weit zurück, wie der Geruch von Braunkohle in den Städten. Ich spüre nicht mehr, ob ich im Westen oder Osten der Republik unterwegs bin – wir sind tatsächlich zusammengewachsen und ein Deutschland in „meinen“ Grenzen von 1990 ist mir fremd geworden – so fremd, wie mir damals diejenigen waren, die sich mit mir vereinigen wollten.